Der Spracherwerb ist einer der wohl entscheidendsten Faktoren in der menschlichen Entwicklung. Erst, wenn wir eine Sprach verstehen und sprechen können, stehen uns in der Gesellschaft Türen offen: Plötzlich können wir Beziehungen zu anderen Menschen aufbauen, sinnvoll kommunizieren und – im Rahmen unserer sonstigen Möglichkeiten – am öffentlichen Leben teilhaben.
Doch wie funktioniert Spracherwerb eigentlich? Wie lernen wir unsere Erstsprache?
Unterschiedliche Spracherwerbstheorien
Im Laufe der Zeit wurden unterschiedliche Spracherwerbstheorien entwickelt, die teilweise rein theoretisch, wesentlich häufiger jedoch auch mit empirischen Befunden begründet wurden. Die populärsten dieser Theorien sollen nachfolgend in aller Kürze vorgestellt werden.
Behaviorismus
Die behavioristische Theorie versteht den Spracherwerb als Folge von Reiz-Reaktions-Abläufen: Wir kommen als unbeschriebenes Blatt zur Welt, brabbeln vor uns hin, ahmen andere Menschen nach und erhalten daraufhin Feedback. Richtiges Sprechen wird belohnt – sie lächeln, jubeln, freuen sich.
Falsches Sprechen hingegen bringt uns keine positiven Reaktionen ein. So lernen wir, vor allem diejenigen Sprechweisen immer wieder anzuwenden, die uns positives Feedback einbringen – und lernen damit die Sprache.
Die behavioristische Theorie blendet dabei innerpsychische Vorgänge vollkommen aus und versteht den Menschen als eine Art Reiz-Reaktions-Maschine. Aus diesem Grund sowie auf der Basis neuerer empirischer Erkenntnisse zum Spracherwerbs muss die Theorie als überholt eingestuft werden.
Nativismus
Der Nativismus hingegen nimmt an, dass alle Menschen von Geburt an mit bestimmten sprachlichen Grundstrukturen ausgestattet sind, die in unserem Hirn angelegt sind. Diese angelegten Grundstrukturen ermöglichen dann nach nativistischer Annahme die Ausbildung von Sprachfähigkeit.
Als zentrale Figur des Nativismus gilt der Linguist Noam Chomsky, der die Theorie der Universalgrammatik vertritt. Dieser Theorie zufolge bedingen die vorangelegten Sprachstrukturen im Hirn des Menschen wesentliche Übereinstimmungen zwischen allen menschlichen Sprachen – Sprache ist die Folge der angeborenen Strukturen und daher in ihren spezifischen Ausprägungen durch diese vorgeprägt.
Varianzen zwischen den einzelnen Sprachen sind demnach nur im Rahmen dessen möglich, was die universellen Sprachstrukturen des Menschen erlauben. Nichtsdestotrotz nimmt die Umgebung des Individuums auch hier eine wichtige Rolle ein – schließlich ist der konkrete Spracherwerb insofern von dieser abhängig, als wir die dort vorherrschende Sprache entwickeln.
Auch hieran regt sich Kritik. So muss die Annahme angeborener Sprachstrukturen, die mehr oder minder zwangsläufig zur Entwicklung von Sprache führen, als hochgradig spekulativ und letztlich unbeweisbar eingestuft werden. Hinzu kommt der Umstand, dass sich derart große Differenzen zwischen unterschiedlichen Sprachen ausmachen lassen, dass die biologisch bedingte Universalität grammatischer Strukturen unwahrscheinlich erscheint. Auch interessant: Welche Sprache hat die meisten Wörter?
Kognitivismus
Die kognitivistische Spracherwerbstheorie geht auf Jean Piaget zurück. Im Kern beschreibt sie die Entwicklung von Sprache als Effekt der allgemeinen geistigen Entwicklung des Kindes. Piaget hat hierzu ein ausführliches, empirisch unterfüttertes Entwicklungsmodell entworfen, das die Entwicklung der Intelligenz in vier Stufen beschreibt.
Hierbei zeigt sich ein Fortschreiten von rein sensumotorischen zu immer abstrakteren (Denk-)Fähigkeiten. Im Rahmen dieser Entwicklung finden zwei Schritte statt, die für den Spracherwerb besonders bedeutsam sind: Das Kind ahmt Verhaltensweisen nach und variiert sie im Anschluss und es wird ihm zunehmend möglich, symbolisch-abstrakt zu denken. Hierin liegen die Grundlagen für die Sprachentwicklung.
Piagets Theorie gilt noch heute in der Entwicklungspsychologie als wegweisend. Sie stellt die Grundlage für zahlreiche empirische Untersuchungen dar, die sowohl hinsichtlich der allgemeinen Entwicklung als auch spezifisch der Sprachentwicklung zu Modifikationen der ursprünglichen Theorie geführt haben. Lesen Sie auch diesen Beitrag: Lustige Gedächtnisübungen für Anfänger.
Interaktionismus
Die interaktionistische Theorie stützt sich sowohl auf nativistische als auch auf kognitivistische Elemente. Interaktionist*innen gehen davon aus, dass Kinder mit einer grundlegenden Sprachlernfähigkeit sowie mit einer angeborenen Lernfreude zur Welt kommen.
Ferner sehen sie den Spracherwerb weitgehend als Bestandteil der allgemeinen kognitiven Entwicklung. Zusätzlich betonen sie jedoch die zentrale Rolle der sozialen Interaktion für die Entwicklung der Sprache: Im Kontakt mit seinen Erziehungspersonen bildet sich die kindliche Sprache erst aus.
Jerome Bruner, Hauptvertreter des Interaktionismus, nimmt dabei an, dass Menschen mit angeborenen Interaktionskompetenzen ausgestattet sind, die es ihnen erlauben, Kindern beim Spracherwerb zu helfen.
Prominentestes Beispiel hierfür ist die sog. Babysprache, die viele Erwachsene verwenden, wenn sie mit kleinen Kindern sprechen. Daneben bewertet Bruner das Verhalten der erwachsenen Bezugspersonen im Spiel mit den Kindern, etwa die dabei auftretende Benennung von Gegenständen, aber auch und vor allem Wiederholungen sowohl von Äußerungen als auch von diesbezüglichen Handlungsabläufen als zentral für den kindlichen Spracherwerb.
Weiterführende Literatur